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Oskar Freysinger

Werdegang eines Mondkalbs

 

Begonnen hat mein Erdendasein mit einer Zangengeburt. Mein Kopf sah nach der qualvollen Niederkunft aus wie eine Birne. Zum Glück brachte meine Mutter sie zum Glühen, um zu verhindern, dass aus der Zangengeburt eine Fehlgeburt wurde.

 

Ihr Mittel zur Frühförderung des arg gebeutelten Erdneulings: Lieder, Sprüche und Gedichte. Sie machten mir den sich anbahnenden Leidensweg durch die staatlichen Erziehungsanstalten halbwegs erträglich.

 

Zwischen fünf und zehn Jahren flüchtete ich mich bei jedem Schluckauf der Wirklichkeit in «Fipps der Affe», «Balduin Bählamm» oder «die fromme Helene». Wilhelm Busch prägte mir den vierhebigen Jambus dermassen in die Gehirnmasse ein, dass ich nur mehr jambisch und in Reimen zu denken vermochte. Hinzu kamen die über 30 Abenteuerromane Karl Mays hinzu, die damals als klein geschriebene, 500-seitige Taschenbücher für jeweils einen «Füüfliiber» zu kaufen waren.

 

Lange bevor ich Primar- und Gymnasiallehrer, Gemeinderat, Grossrat, Nationalrat, Staatsrat und gefallener Engel wurde, war ich Kara Ben Nemsi, Old Shatterhand und Winnetou. Nachdem ich auch noch Natty Bumpoo, Huckleberry Finn, Prinz und Bettelknabe, Michael Strogoff und – zu meiner Schande – Lassiter und Jerry Cotton geworden war, stand meinem abenteuerlichen Schicksal nichts mehr im Weg.

 

Immer zwischen der Welt des Worts, des Imaginären, und der leidigen Wirklichkeit hin- und hergerissen, komponierte und schrieb ich mich durch unzählige Songs und Gedichte, zwei Musicals, fünfundzwanzig Romane und Erzählungen und lernte daneben Weltliteratur, Philosophie sowie Historie eingehend kennen, indem ich sie mit Leidenschaft unterrichtete. Ich wagte mich mit meinen welschen Schülern sogar an die Libretto-Studie von Wagneropern heran, die ich mir dann mit ihnen in München, Berlin und Heidelberg anschauhörte. 

 

Daneben führte mich mein unaufhaltsamer politischer Untergang über alle Leidensstufen bis in die schwindelerregende Höhe des Staatsrats, wo ich programmmässig strauchelte und so tief ins Glück fiel, dass ich mich von dieser seltenen Gunst des Schicksals immer noch nicht erholt habe.

 

Die vielfältigen Erfahrungen, die ich während meiner Politkarriere sammelte, waren es tausendmal wert, mit einem spektakulären Sturz abgerundet zu werden: Tolerante Ausgrenzung, liebevolle Baseballschlägerempfänge bei Konferenzen, Brandanschlag, Spucke ins Gesicht, Bewurf mit vollen Fünf-Dezi-Bierbüchsen, Ehrenplatz auf der IS-Abschussliste, Verleumdungen, Niedertracht usw. waren mein täglich Brot. Zeitweise wurde ich aufgrund eines satirischen Gedichts sogar zum Volksfeind Nummer eins. Als ich aus der Abstimmung über die Minarettinitiative als strahlender Sieger hervorging, fand ich zu meinem Erstaunen im arabischen Raum viel mehr Verständnis für den demokratischen Entscheid des Schweizer Volks als bei den ach so liberalen linken einheimischen Bünzli.

 

Seit mich die Politik an den Nagel gehängt hat, bin ich zum Waldgänger und literarischen Heckenschützen geworden, der, vom Kulturbetrieb kaum beachtet, in den tiefen Falten und versteckten Winkeln des Lebens ein rebellisches Dasein führt.

 

Da mir der Herrgott neustens nach einer schweren Herzoperation eine verlängerte Lebensfrist gewährt, habe ich mich in der vorerst letzten Etappe meines irdischen Daseins zum Bänkelsänger gemausert. Weil mir Deutsch und Französisch hierfür zu banal vorkamen, wählte ich das Höchstalemannische als ultimatives poetisches Ausdrucksmittel und begann fleissig Songs auf Oberwallisertitsch zu komponieren.

 

Als sich erwies, dass Radio Rottu für meine musikalisch-poetischen Ergüsse nur taube Ohren übrighatte, führte mich mein Weg zu einem in seiner Briger Studiohöhle verschanzten Grizzly namens Dieter. Der fackelte nicht lange herum und legte sich ins Zeug, um meinen Songs zum Durchbruch zu verschaffen. Dieser ist, angesichts der grenzenlosen Offenheit und Toleranz des linken Kulturbetriebs so ums Jahr 3000 herum zu erwarten. Dann aber werde ich ewige Wiederkehr feiern, weil der Pendel der Weltgeschichte bis dahin möglicherweise wieder nach rechts ausschlagen wird.

 

Fast hätte ich eins vergessen: Trotz dieses Simplicissimus- und Don-Quichotte-würdigen Daseins schaffte ich es, mich zu vermehren, Dutzende von Bäumen zu pflanzen, ein Haus zu bauen und von einer wunderbaren Frau geliebt zu werden. Das sind wohl meine grössten Erfolge in diesem Leben. Jede andere Anerkennung – mit Ausnahme des anonym errungenen Rilke-Preises – werden mir, wie gesagt, als Spätzünder posthum aufs Grab gestellt werden, auf das man so lange mit viel Genugtuung gepisst haben wird. 

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